Archiv

 Störfall Brunsbüttel

Wahrheit über den Störfall

(24. September 2007) - An einem einzigen Tag mussten innerhalb von zwei Stunden gleich zwei Atomkraftwerke in Schleswig-Holstein durch schnelle Notabschaltung vom Netz. Von Detlef Matthiessen, Mitglied des Landtags Schleswig-Holstein.
Störfall in Hamburg

Es geschieht an einem Donnerstag: Ampeln fallen aus, U-Bahnen bleiben stehen, es kommt zu Stromausfällen und Störungen im Übertragungsnetz. Am 28. Juni 2007 führen Wartungsarbeiten in einer Schaltanlage in der Nähe des Atomkraftwerkes Brunsbüttel (KKB) zu einem Kurzschluss in einem Spannungswandler und damit zu einer massiven Netzstörung.

Störfall in Brunsbüttel

13.10 Uhr: Die Leistungsabführung des Atommeilers wird unterbrochen, er läuft nur noch auf Eigenversorgung (sieben Prozent).

Wenn sich ein großes Kohlekraftwerk abschaltet, verbrennt die Restkohle. Ohne erneute Zufuhr des Brennstoffes kommt es automatisch zu einem Stillstand. Bei einem AKW jedoch bleibt der radioaktive Kern im Reaktordruckbehälter weiter in Betrieb. Die Kettenreaktion läuft selbst nach Einschieben der Steuerstäbe zur Dämpfung der atomaren Kettenreaktion vermindert weiter und erzeugt Hitze. Damit es nicht zu einer gefährlichen Kernschmelze kommt, muss weiter gekühlt werden, sonst droht eine Kernschmelze: Steigt die Temperatur im Reaktordruckbehälter so stark, dass er sich verflüssigt, sinkt die radioaktive Glut aufgrund ihres gigantischen Eigengewichts in die Tiefe (melt down). Beim Zusammentreffen mit wasserführenden Gesteinsschichten kommt es zu Wasserdampfexplosionen. Diese setzen riesige Mengen Partikel und Strahlung frei.

Zurück zum Störfall: Nach zwölf Minuten meldet die Sensorik im AKW Brunsbüttel eine ungewöhnliche Dehnung in der Turbine. Das führt zu einer Turbinenschnellabschaltung, anschließend schaltet sich auch der Reaktor ab. Doch dabei fährt ein Steuerstab zu langsam ein. Im Turbinenbereich entwickelt sich ein Schwelbrand, der um 15 Uhr gelöscht werden kann. Eine Falschmeldung führt dazu, dass das Personal die Funktion eines wichtigen Ventils falsch einschätzt. Risse in Abdeckblechen vergrößern sich.

Je Betriebstag eine Million Euro zusätzlicher Gewinn aus jedem Atomkraftwerk.

Störfall in Krümmel

Am selben Tag um circa 15 Uhr kommt es (zufällig?) zu einem dritten Zwischenfall: Ein Kurzschluss in einem Transformator im nahe gelegenen Atomkraftwerk Krümmel löst einen Brand aus. Die Löschvorrichtung im Trafogebäude kann den Brand nicht löschen. Der Kurzschluss führt zur Öffnung zweier Leistungsschalter (statt nur einem), es kommt zu einem Totalausfall der Eigenstromversorgung. Es folgt die Reaktorschnellabschaltung. Die Pumpen schalten sich automatisch ab. Sobald die Eigenstromversorgung wieder hergestellt ist, springt jedoch eine Speisewasserpumpe nicht wieder an. Ein Angestellter öffnet daraufhin anders als im Betriebshandbuch vorgesehen von Hand zwei Entlastungsventile. Er hatte den Schichtleiter falsch verstanden oder der hatte sich missverständlich ausgedrückt.

Der Effekt: der Kühlwasserpegel sinkt dramatsich um die Hälfte des Überstands über den Brennelementen. Das Personal bemerkt den Füllstands- und Druckabfall erst spät und schließt beide Ventile wieder. Erst viel später erreicht der Reaktordruckbehälter wieder Normaldruck und Sollfüllstand. Wegen eindringender Brandgase benötigt das Personal Gasmasken in der Leitwarte.

Warum innerhalb sich dieser heißen Phase des Störfalles statt der sieben Personen der Normalschicht bis zu 29 Menschen in der Leitwarte des Reaktors aufhalten, gehört zu den zahlreichen Ungereimtheiten der Störfall-Geschichten.

Störfall für die Glaubwürdigkeit

Technisches Versagen, menschliche Fehler, eine unsägliche Verschleierungs- und Beschönigungstaktik des Betreibers Vattenfall führen zu einem medialen Tsunamie. Tägliche Berichte folgen, verantwortliche Manager müssen gehen und selbst Atombefürworter sind ernüchtert.

Vattenfall stellt die Vorkommnisse als ordnungsgemäße Reaktion der Technik und der Bedienung dar. Das Ministerium bemerkt später dazu in seinem Bericht: Außerdem enthalten die Presse-Informationen Darstellungen, die dem Betreiber zu dem Zeitpunkt als falsch bekannt gewesen sein müssen. Aussagen wie "Die Störungen in Krümmel und Brunsbüttel waren konventioneller Art und standen nicht mit dem Nuklearbereich der Anlagen in Verbindung." und "... wies zur Klarstellung darauf hin, dass der Brand des Transformators den Reaktor des Kraftwerks nicht betroffen hat..." führen zu einer erdbebengleichen Erschütterung der Glaubwürdigkeit des Betreibers. Denn das Absinken des Wasserstandes im Reaktorkern innerhalb von zehn Minuten um die Hälfte der Überdeckung der Brennelemente, das rührt im doppelten Wortsinn am Kern der atomaren Sicherheit und zeigt, wie fragil die Sicherheit deutscher Atomkraftwerke ist.

Ständiger Störfall: Die enormen Profite

Das unverantwortliche Verhalten von Vattenfall und anderer Energiekonzerne findet eine banale Erklärung:

Die Atomkraftwerke sind längst abgeschrieben, die variablen Kosten liegen relativ gering. Zwar ist Uran ein endlicher Rohstoff. Durch seine Verknappung stieg der Preis auf über 130 Dollar pro englisches Pfund (454 Gramm). Doch der Brennstoffpreis liegt mit zehn Prozent Anteil an den gesamten Herstellungskosten immer noch sagenhaft günstig. Auch die Personalkosten für Wartung und Betrieb sind vergleichsweise niedrig. Jeder Tag Betrieb in Krümmel beschert den Betreibern eine Million Euro zusätzlichen Gewinn, das kleinere AKW Brunsbüttel 0,8 Millionen. Die verantwortungslose Atomstromproduktion macht die Versorger reich, durch überhöhte Strompreise die Verbraucher arm und gefährdet die Sicherheit aller Menschen in Mitteleuropa.

Brunsbüttel wieder am Netz

(29.03.03) Mit einer Wasserstoffexplosion nahe des Reaktordruckbehälters am 14.12.01 ist das AKW knapp an einem schwerwiegenden Störfall vorbeigekommen.

Brunsbüttel wieder am Netz

Mit einer Wasserstoffexplosion nahe des Reaktordruckbehälters am 14. Dezember 2001 ist das Atomkraftwerk Brunsbüttel knapp an einem schwerwiegenden Störfall vorbeigekommen.

(29. März 2003) Nach einjähriger Pause und Zustimmung der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde produziert das HEW-KKW Brunsbüttel an der Unterelbe wieder Strom. Es war im Februar 2002 abgeschaltet worden, nachdem man eine zerstörte Leitung im Sicherheitsbehälter entdeckt hatte. Ursache war eine Reaktion von Knallgas, das sich in der Leitung ansammelte.

AKW Brunsbüttel - beinahe GAU

Der Spiegel bezeichnet den Vorfall als bisher gravierendsten Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk. Nur eine Reihe von Zufällen hat nach Spiegel-Angaben verhindert, dass eine radioaktiv belastende Wolke innerhalb von Minuten das nahegelegene Itzehoe und die Städte Hamburg und Kiel erreichte.

Durch eine Explosion wurde eine Rohrleitung über drei Meter völlig zerfetzt. Wäre das Rohr nicht durch eine Rückschlagklappe geschützt worden, hätte es an einer verwundbaren Stelle explodieren und damit den Weg für den Austritt von radioaktivem Dampf frei machen können. Aufgrund früherer Analysen und Modellrechnungen wurde bisher eine solche Explosion völlig ausgeschlossen.

716 Luftbild AKW Brunsbüttel

AKW Brunsbüttel am Rand der Katastrophe

Das Atomkraftwerk Brunsbüttel ist ein 25 Jahre alter Siedewasserreaktor. In den 90er Jahren war er wegen Rissen in Rohrleitungen für drei Jahre außer Betrieb genommen worden. Beim Betrieb von Siedewasserreaktoren entsteht das leicht explosive Knallgas durch die radioaktive Strahlung im Kühlkreislauf. Normalerweise wird das Gas aus dem Kühlkreislauf entfernt. Die Bedeutung des Zwischenfalls liegt darin, dass sich das Knallgas entgegen allen Berechnungen überhaupt an dieser Stelle sammeln konnte.

Reaktor lief nach dem Zwischenfall zwei Monate weiter

Nach dem Zwischenfall wurde die Aufsichtsbehörde von einer "spontanen Dichtungsleckage" informiert, der Reaktor lief ununterbrochen weiter. Erst nach langen Diskussionen zwischen Aufsichtsbehörden und der HEW als Betreiber erklärte man sich zwei Monate nach dem Zwischenfall bereit, den Reaktor herunterzufahren. Bei der Inspektion am 21. Februar entpuppte sich die "spontane Dichtungsleckage" dann als Explosion einer Rohrleitung im Sicherheitsbehälter. Daraufhin wurde die Anlage sofort ganz abgeschaltet.

Schadensursache unklar

Die mächtige Explosion in Brunsbüttel wirft komplexe und neue Sicherheitsfragen auf. Der Schadensmechanismus muss vollständig aufgeklärt werden, bevor die Anlage wieder in Betrieb gehen darf. Auch muss dafür Sorge getragen werden, dass die naturgesetzlich nicht auszuschließende Wasserstoffentstehung in anderen Siedewasserreaktoren in Deutschland (Grundremmingen 1 und 2, Philippsburg 1, Krümmel und Isar 1) nicht zu ähnlichen Schadensfällen führt.

Verhinderten Stromhöchstpreise das Abschalten?

Kurz nach dem Störfall schnellten die Strompreise auf dem Spotmarkt zwischen 17. und 19. Dezember: auf ca. 0,50 Cent je Kilowattstunde Spitzenlaststrom und 0,30 Cent für Grundlaststrom, wie ihn Kernkraftwerke herstellen. Das nährt den Verdacht, der Störfall könnte aus rein finanziellen Gründen heruntergespielt worden sein.

Der Branchenverband der Stromwirtschaft erklärt den Preisanstieg mit dem unerwarteten Kälteeinbruch: Kleine Marktlücken verursachten große Preissprünge. Preissprünge künstlich erzeugt? Unbestreitbar haben die großen Stromhersteller, also RWE und E.on sehr gut an diesen Preissprüngen verdient. Genau diese Firmen überwachen und steuern auch das Verbundnetz. Eine sehr genaue Untersuchung dieser Preissprünge könnte darum sehr interessant sein. Es müsste sogar im Interesse der großen Firmen sein, durch wirklich unabhängige Untersuchungen zu zeigen, dass sie mit den Preissprüngen, an denen sie so gut verdient haben, ursächlich nichts zu tun haben (vgl. Enron links).

Gravierender Zwischenfall in Besse (USA)

Auch im Atomkraftwerk David Besse in Ohio (USA) wurde Anfang März in dem etwa 15 Zentimeter dicken Stahldeckel des Reaktors ein durchgehendes Korrosionsloch von mehr als zehn Zentimeter Durchmesser entdeckt. Nur die dünne Edelstahlauskleidung des Reaktordeckels hielt noch dicht, war aber infolge des hohen Drucks bereits stark ausgebeult. Wäre sie gerissen, was nach Professor Klaus Traube nur eine Frage der Zeit gewesen sei, so hätte das die Anlage zu einer strahlenden Ruine gemacht. Lediglich ein vorschriftsmäßiges Funktionieren des Notkühlsystems hätte dann noch verhindert, dass auch das Gebäude zerstört und eine enorme Menge Radioaktivität in die Umgebung freigesetzt worden wäre.

Auch das Kraftwerk in Besse ist seit 25 Jahren in Betrieb. Traube: "In beiden Fällen wurden die Störfallursachen nicht vorhergesehen und bis jetzt nicht richtig verstanden. Alle Atomkraftwerke werden mit zunehmendem Betriebsalter störanfälliger". Prof. Traube fordert, dass der HEW aufgrund der Ereignisse in Brunsbüttel die Erlaubnis zum Betrieb von Atomanlagen entzogen wird.

letzte Änderung: 14.05.2010